Neugeborenenscreening: Nur „richtige“ Nudeln werden Aanish immer fehlen

Der kleine Aanish ist mit einer Stoffwechselerkrankung geboren und hätte nur ein kurzes Leben vor sich gehabt. Dank des Neugeborenenscreenings des Dietmar-Hopp-Stoffwechselzentrums konnte er -wie viele Kinder zuvor - gerettet werden.

Wenn Aanish einen Ball sieht, fängt der kleine Junge zu strahlen an. „Vielleicht wird ja aus ihm mal ein erfolgreicher Fußballer“, scherzt Vater Ahtesham Gulzar und schaut seinen Sohn intensiv an. Dass der Dreijährige überhaupt so toben kann, grenzt für ihn und seine Frau Maria an ein Wunder. Denn Aanish Gulzar leidet unter einer seltenen Stoffwechselkrankheit: Tyrosinämie Typ I. Ohne einen Routinecheck seines Blutes kurz nach der Geburt im Neugeborenenscreening wäre der kleine Bietigheimer vermutlich nicht mehr am Leben.

„Es ist eine sehr seltene Erkrankung, sie zeigt sich bei einem von 100 000 neugeborenen Kindern. Durch einen Defekt an einem Enzym bilden sich beim Abbauvorgang der Aminosäure Tyrosin schädliche Stoffwechselprodukte. In erster Linie werden bei dieser Erkrankung die Nieren sowie die Leber in Mitleidenschaft gezogen. Unbehandelt führt sie immer zum Tod. Sie kann aber zum Glück seit circa 20 Jahren sehr gut behandelt werden“, erklärt Professor Georg Hoffmann, geschäftsführender Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin und Leiter des Neugeborenenscreenings in Heidelberg.

Als Aanish am 2. Juli 2018 in Ludwigsburg geboren wird, scheint noch alles normal. Mit Mutter Maria darf der Neugeborene vier Tage später die Klinik verlassen und wird zuhause sehnsüchtig von seinen Geschwistern Ramish und Ishaal erwartet. „Ich bin mit den Kindern am nächsten Tag zu einem Spielfest, da erreichte mich der Anruf meiner Frau. Sie war ganz außer sich. Die Klinik habe angerufen. Aanish müsse sofort ins Krankenhaus kommen, mit ihm stimme etwas nicht“, erinnert sich der 42-Jährige. Schnell fährt er nach Hause und dann mit Mutter und Kind in die Klinik. Aanish schien eigentlich ganz normal, nur etwas schlapp, fanden die Eltern, schoben das aber auf die Geburt und die Temperaturen im Juli. „In der Klinik wurde unser Junge sofort behandelt und einige Tage später nach Heidelberg in die Uniklinik verlegt. Dort hat man uns über seine Krankheit informiert“, erinnert sich der Busfahrer. Wenn der wenige Tage alte Junge nicht umgehend behandelt worden wäre, hätte die Gefahr eines akuten Leber- und Nierenversagens bestanden. Die Eltern sind verunsichert. Ihr Kind leidet unter einer Erbkrankheit, wieso das? Bruder Ramisch (12) und Schwester Ishaal (7) sind kerngesund, auch die Eltern sind es. „Die Ärzte haben uns sehr anschaulich erklärt, warum unser Sohn trotzdem erkranken konnte“, berichtet Gulzar, „jeder Mensch trägt Rezepte in sich, gesunde und kranke. Trifft ein gesundes auf ein krankes, gleicht sich das wieder aus. Aber Aanish hat zwei kranke Rezepte abbekommen. Eines von mir und eines von meiner Frau, darum ist er jetzt krank und wird es ein Leben lang bleiben“.

Die Eltern sind schwer geschockt. Aanish wird sein Leben lang Medikamente einnehmen müssen und vor allem bei der Ernährung muss der Junge ziemliche Abstriche machen. „Aanish darf nur ganz wenig Eiweiß zu sich nehmen. Weniger als in einem Ei ist“, erklärt der Vater. Der Schock ist schnell verdaut, die Eltern wollen das Beste für ihr Kind und nehmen gerne das Angebot der Klinik in Heidelberg an. „Wir bieten neben der medizinischen Behandlung, auch noch psychologische Betreuung und Schulungen der Eltern und Betroffenen bei der Zubereitung der Ernährung an“, erklärt der Klinikleiter. Familie Gulzar bekommt ein Zimmer in Heidelberg und nimmt an der einwöchigen Schulung teil. „Wir lernten dort, wie man den Eiweißgehalt in Lebensmitteln ausrechnet und die Nahrung für Aanish zubereitet werden kann“, berichtet Ahtesham Gulzar. In der Praxis bedeutet das: kein Fleisch, kein Fisch, keine Milchprodukte, keine Nudeln. „Aanish isst gerne Nudeln mit Tomatensoße. Wir kaufen für ihn immer spezielle Nudeln, die leider wenig mit ‚richtigen’ zu tun haben. Aber er isst sie ganz gerne“, betont der Bietigheimer. Kartoffeln sorgen dafür, dass Aanish eine ausreichende Zufuhr an Kalorien erhält. Und da Kartoffeln auch der Hauptbestandteil von Chips sind, darf er da immer richtig zugreifen, wenn seine Geschwister eine Tüte öffnen. Neben der eiweißarmen Ernährung ist auch die regelmäßige Einnahme eines Medikamentes erforderlich. Täglich muss Aanish Tabletten mit dem Wirkstoff Nitisinon und Aminosäuren zu sich nehmen. „Er kann dadurch ein fast normales Leben führen. Dadurch, dass vegane Ernährung voll im Trend liegt, hat er auch viel mehr Abwechslung als früher die an Tyrosinämie Typ I-Erkrankten“, erklärt Hoffmann. Außerdem muss der fast Zweijährige regelmäßig zum Check in die Klinik. „Aanish trägt alles mit großer Geduld. Seine Lebensfreude hat er sich bewahrt und tobt gerne mit anderen Kindern auf der Straße. Außer, dass er etwas schmächtiger ist als Gleichaltrige, sieht man ihm seine Erkrankung nicht an. Wir sind froh, so einen tapferen Jungen zu haben“, freuen sich Ahtesham und Maria Gulzar.

Das Neugeborenescreening war eines der ersten medizinischen Projekte, die die Dietmar Hopp Stiftung unterstützt hat. Gern bezeichnet Dietmar Hopp es als eines seiner Lieblingsprojekte: „Ein einziger Tropfen Blut genügt, um Betroffenen und ihren Familien unermessliches Leid zu ersparen. Ich finde das einfach fantastisch und es macht mich glücklich zu wissen, dass meine Stiftung dazu beiträgt, Menschenleben zu retten.“

Im Neugeborenenscreening des Dietmar Hopp Stoffwechselzentrums in Heidelberg werden jährlich die Proben von mehr als 140 000 Neugeborenen aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland getestet. Es werden lediglich ein paar Tropfen Blut benötigt, die Blutentnahme erfolgt im Laufe des zweiten bis dritten Lebenstages. Diese werden auf eine Filterpapierkarte getropft und nach dem Trocknen sofort ins Screeninglabor geschickt. Etwa bei jedem tausendsten Kind wird eine Krankheit entdeckt und rechtzeitig behandelt. Im besten Fall gibt es ein Medikament gegen die jeweilige Erkrankung; anderen Betroffenen kann zum Beispiel durch eine lebenslange Diät geholfen werden. Untersucht werden im Regelscreening zurzeit 17 Stoffwechsel- und Hormonstörungen und im Rahmen einer weiteren von der Dietmar Hopp Stiftung geförderten Studie zusätzlich fast 30 weitere Erkrankungen. Außerdem unterstützt die Dietmar Hopp Stiftung die Erforschung des Langzeit-Outcomes, die sich mit der langfristigen Entwicklung der betroffenen Kinder beschäftigt, um die Wirksamkeit des Screenings als Präventivmaßnahme zu prüfen: In einer weltweit einzigartigen Langzeitstudie verfolgen die Mediziner, wie sich die therapierten Kinder entwickeln. Erste Ergebnisse belegen, dass die Mehrzahl der gescreenten Kinder von der frühen Diagnosestellung innerhalb des Untersuchungszeitraums nachhaltig profitierte.

 

Quelle: Mannheimer Morgen, Beilage zum 80. Geburtstag von Dietmar Hopp 2020, Text: Swenja Knüttel