Gemeinschaftliches Wohnen und gesellschaftliche Teilhabe in Schwetzingen
Der Tag ist für Lea und Julius noch lange nicht zu Ende, wenn sie gegen 16.30 Uhr von der Arbeit nach Hause kommen. Seit sie in ihrer neuen Wohngemeinschaft in Schwetzingen leben, müssen sie sich mehr als früher selbst um Wäsche, Haushalt und Einkauf kümmern. „Dafür haben wir aber auch mehr Freiheiten“, lacht Julius.
Der 30jährige genießt zum Beispiel, dass er abends länger fernsehen und am Wochenende ausschlafen kann. Und er ist auch ein bisschen stolz, dass er auch dann selbstständig pünktlich aufsteht, wenn es abends mal spät geworden ist. Pünktlich heißt in diesem Fall früh um 6.15 Uhr, damit er eine Stunde später zur Arbeit aufbrechen kann.
Julius arbeitet als Hausmeister in Heidelberg-Rohrbach, nach der Arbeit und am Wochenende ist er zumeist sportlich aktiv, hat sogar bei den Special Olympics im Schwimmen teilgenommen. Außerdem gehört Fahrradfahren ebenso zu seinen Hobbies wie Tanzen, Klettern oder Skifahren. „Ich bin kein Stubenhocker und muss immer raus in die Natur“, sagt Julius. Dennoch freut er sich über die Möglichkeiten, die sein neues Zuhause bietet: Im Multifunktionsraum im Untergeschoss besteht die Gelegenheit, Krafttraining auszuüben oder Tischtennis zu spielen. Das Klavier dort benutzt er allerdings eher selten, der Flügel im Elternhaus ist ihm lieber: Denn obwohl sich Julius in seiner Zweier-WG sehr wohl fühlt, besucht er seine Familie, die auch in Schwetzingen lebt, regelmäßig. Am Wochenende ist er außerdem häufig als Fan des Fußballclubs Fortuna Düsseldorf im Stadion. Auch im Relegationsspiel gegen Bochum hat er sein Team unterstützt – leider vergeblich, der Aufstieg blieb dieses Jahr versagt.
Nicht so erfolgreich wie erhofft war in der vergangenen Saison auch das Handball-Team der Rhein-Neckar-Löwen, dem Lea regelmäßig in der Mannheimer SAP-Arena zujubelt. Das ist eine ihrer großen Leidenschaften neben dem Eishockey, wie ein Blick in ihr WG-Zimmer zeigt. Hier sitzen Plüsch-Maskottchen von Löwen und Adlern einträchtig nebeneinander auf der Fensterbank, ansonsten zeugen Bettwäsche, Schreibtischstuhl und der Eishockey-Schläger über dem Bett davon, dass Leas Herz für die Adler Mannheim schlägt.
Im Alltag ist Lea in der Abteilung Montage in einer Werkstatt in Oftersheim beschäftigt. Die Arbeit macht ihr viel Spaß und auch nach einem fordernden Arbeitstag verwendet sie nach Feierabend meist noch einige Zeit darauf, zum Beispiel ihr Zimmer aufzuräumen oder in der WG, die sie mit einer weiteren jungen Frau bewohnt, sauber zu machen. Aber auch wenn sie auf die Frage, was sich durch ihren Umzug geändert habe, antwortet, „dass wir alles selbst machen müssen“, merkt man der 25jährigen an, dass sie ihre neue Selbstständigkeit genießt und stolz darauf ist. Und auch in Schwetzingen findet sich die Mannheimerin mittlerweile gut zurecht. „Am Anfang war alles noch etwas ungewohnt“, beschreibt sie den Umzug in eine andere Stadt. Aber nicht zuletzt, weil Nachbar Julius den ortsfremden Nachbarn und Mitbewohnern seine Heimatstadt gezeigt hat, konnte sie sich schnell einleben.
Lea und Julius sind zwei von acht jungen Menschen, die jeweils in Zweier-Wohngemeinschaften zusammenleben. 520 Quadratmeter stehen in dem barrierefreien Haus für die Wohnungen und Gemeinschaftsräume zur Verfügung, hinzu kommt ein Garten. Gemeinschafträume und Garten werden auch für Begegnungen mit Freunden und Nachbarn genutzt, Initiativen, Gruppen und Vereine sind ausdrücklich eingeladen, den Gemeinschaftsraum im Gartengeschoss zu nutzen. „Wir haben hier einen Raum für Begegnungen geschaffen, in dem ein Austausch zwischen Menschen mit und ohne Behinderung ermöglicht wird“, erklärt Heiko Zillich vom projektdurchführenden Heidelberger Verein habito, der in Heidelberg und dem Rhein-Neckar-Kreis individuelle Begleitung von Menschen mit Behinderungen anbietet.
Gemeinsam mit dem Verein ProDown Heidelberg hat habito die Projektidee seit 2015 entwickelt, künftige Bewohner und ihre Eltern konnten bereits in der Planungszeit mitwirken und ihre Wünsche und Bedürfnisse einbringen. Fast alle der Bewohnerinnen und Bewohner sind direkt aus ihrem Elternhaus in das neue Domizil gezogen. Ohne das Wohnprojekt in der Schwetzinger Schützenstraße wäre die einzige Alternative bei Auszug aus dem Elternhaus eine Heimunterbringung gewesen. „Unser Ziel war es, eine bezahlbare, barrierefreie Möglichkeit selbstbestimmten Wohnens zu schaffen“, betont Heiko Zillich. Ermöglicht wurde das 2,6 Millionen Euro teure Wohnprojekt auch durch zahlreiche Spenden, unter anderem von der Aktion Mensch, der Stiftung Wohnhilfe und der Dietmar Hopp Stiftung, die 500.000 Euro beigesteuert hat, um einen Beitrag für Inklusion und Vielfalt zu leisten.
Die Hausgemeinschaft, die dank des Engagements zahlreicher Menschen und Gruppen entstanden ist, ermöglicht Bewohnerinnen und Bewohnern ein selbstständiges Leben in einem geschützten Umfeld mit Begleitung, wo immer sie nötig ist. Unterstützt werden die jungen Erwachsenen von einem Team, das aus sieben Personen besteht, darunter pädagogische Fachkräfte, eine Studentin der Sozialarbeit und Hilfskräfte. Sie stehen morgens und abends mit Rat und Tat zur Verfügung, helfen zum Beispiel auch beim Einkaufen und Kochen. So hängt an der Pinwand ein Plan mit den Speisevorschlägen der Bewohnerinnen und Bewohner für die Woche, meist kaufen sie gemeinsam ein und kochen und essen zusammen in der großen Wohnküche.
Überhaupt nutzen die Bewohner die Gemeinschaftsräume rege: Hier wird gekocht, gegessen und gechillt - oder auch gefeiert. Unlängst hat Julius zum Beispiel eine große Party zu seinem 30. Geburtstag gefeiert. Mitbewohner, Familie und Freunde waren dabei, eine Bildercollage in seinem Zimmer erinnert an das Fest, das wohl nicht das letzte war: „Ich würde auch noch öfter Party feiern“, grinst Julius. Und wenn man die fröhlichen jungen Leute in der Hausgemeinschaft beobachtet, kann man sicher sein: Da werden noch viele Feste folgen.
Stand: Juni 2024