Einzug in ein neues Leben: Junge Menschen mit Handicap wagen Schritt in die Selbstständigkeit

Sie gehen in ihrem Beruf auf, sind sportbegeistert und treffen sich gern mit Freunden. Mit dem Umzug in eine integrative Wohngemeinschaft, in der Menschen mit und ohne Handicap zusammenleben, haben Marco Huber und Alisa Falkenstein 2020 den nächsten Schritt zu einem selbstbestimmten Leben getan.

Eine Einweihungsparty konnte aufgrund der Corona-Pandemie zunächst nicht stattfinden und zwei der insgesamt acht WG-Zimmer konnten aus demselben Grund in den ersten Monaten noch nicht belegt werden, aber so konnten sich Marco und Alisa und ihre Mitbewohner in Ruhe einleben. Und das war gar nicht so schwer: „Wir kennen uns ja alle schon von klein auf, und dass wir nun zusammenwohnen können, noch dazu in so einem schönen Haus, das ist schon etwas ganz Besonderes“, schwärmt Alisa von ihrem neuen Zuhause. Heimweh habe es nach dem Auszug von Zuhause kaum gegeben. „Ich habe so viel zu tun und bin so viel unterwegs, da hätte ich für so was gar keine Zeit“, betont Marco. Der 28jährige hat einen Führerschein und ist mit dem eigenen Auto in der Region unterwegs, besucht Verwandte oder trifft sich mit Freunden. Wenn er nicht gerade seiner Arbeit im Büro der Küchenservice Feil GmbH nachgeht, interessiert er sich vor allem für Sport. Als Fan verfügt er über Dauerkarten für die Adler Mannheim und die TSG Hoffenheim, begeistert sich aber auch für den FC Bayern München. Aktiv ist er selbst mit dem Handbike, er geht gern Skifahren und ist engagierter Trainer einer Fußballmannschaft für Jugendliche mit Handicap in Walldorf. „Der Tag müsste für mich manchmal mehr Stunden haben“, erklärt er lachend.

Für die 27jährige Alisa ist es nicht ganz neu, von Zuhause fort zu sein. Sie stammt aus Karlsruhe und hat schon während ihrer Ausbildung zur Büropraktikerin in Neckargmünd in einem Internat gewohnt. St. Leon-Rot und die Region sind ihr außerdem vertraut, weil sie genau wie Marco seit ihrer Kindheit im Petö-Förderzentrum von FortSchritt St. Leon-Rot betreut wird. Außerdem arbeitet sie in Wiesloch im Best Western Plus Palatin Kongress Hotel. „Da spare ich seit meinem Umzug in die WG jeden Tag viel Zeit, weil ich statt einer Stunde aus Karlsruhe nur noch fünf Minuten unterwegs bin zu meinem Arbeitsplatz“, freut sich Alisa. Da sie ähnliche Hobbies haben, unternehmen Alisa und Marco in ihrer Freizeit viel gemeinsam: Als Fan der TSG Hoffenheim hat sie auch eine Dauerkarte, genau wie für die Rhein-Neckar-Löwen, deren Handball-Spiele sie leidenschaftlich live verfolgt. Alisa ist auch selbst sportlich unterwegs, fährt Handbike und Ski. „Und ich treffe mich gern mit meinen Freunden und reise“, berichtet Alisa. Die letzte Reise, an der auch Marco teilgenommen hat, führte nach Mallorca. Jetzt können es die beiden kaum erwarten, dass die Corona-Pandemie wieder mehr Bewegungsfreiheit und damit auch die Möglichkeit zum Reisen eröffnet.

Job, Hobbies, Reisen – das klingt selbstverständlich, ist es aber für Marco und Alisa nicht. Beide sind nach einer Infantilen Cerebralparese auf den Rollstuhl angewiesen, können aber dank der langjährigen Petö-Förderung ein paar Schritte an Stöcken gehen und haben sich auch einige andere Fertigkeiten antrainiert, die ihnen den Alltag bei der Arbeit, in der Freizeit und nun auch in der Wohngemeinschaft erleichtern.

„Die Förderung nach Petö ermöglicht Marco und Alisa ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben“, betont Susanne Huber, Marcos Mutter und Erste Vorsitzende von FortSchritt St. Leon-Rot e.V., der das erste Petö-Förderzentrum im Südwesten Deutschlands betreibt. „Auf Petö bin ich eher zufällig gestoßen“, erklärt Susanne Huber: „Mit der Petö-Förderung hat Marco große Fortschritte in seiner Entwicklung gemacht, so dass wir beschlossen haben, aus der ursprünglichen Elterninitiative einen Verein zu entwickeln, um eine regelmäßige Förderung zu ermöglichen.“  Die so genannte konduktive Förderung zur Behandlung zerebraler Bewegungsstörungen wurde durch den ungarischen Bewegungspädagogen Prof. Dr. Andreas Petö entwickelt: Die Methode orientiert sich mehr als andere Therapieformen individuell an den Wünschen und Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen. Sie profitieren außerdem davon, dass die Bereiche Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie und Krankengymnastik zusammen in den ganzheitlichen Ansatz integriert werden. Die Grundidee besteht darin, körperlich behinderten Menschen mit Hilfe einer Bezugsperson eine Gruppenförderung zu ermöglichen. Die Betroffenen motivieren sich gegenseitig und Nachahmungseffekte können in die Förderung einfließen. „Das Ziel ist eine im Alltag weitgehende Unabhängigkeit von Hilfsmitteln und Personen“, fasst Susanne Huber zusammen. Der Bedarf ist groß: Rund 100 Kinder und Jugendliche werden im Petö-Zentrum in St. Leon-Rot gefördert, für Intensivwochen oder Selbstständigkeitscamps kommen sie aus dem gesamten Bundesgebiet in das Zentrum, dessen Entstehung von der Dietmar Hopp Stiftung unterstützt wurde.

Der Erfolg gibt dem Konzept Recht, Alisa und Marco sind die besten Beispiele hierfür, sie haben durch die Förderung an Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein gewonnen. Um ihnen auch eine geeignete Wohnform zu ermöglichen, ergänzt seit 2016 der gemeinnützige Verein FortSchritt Integrativ Leben die Arbeit von FortSchritt St. Leon-Rot. „Für junge Erwachsene mit Bewegungseinschränkungen gibt es kaum Angebote auf dem Wohnungsmarkt“, weiß Susanne Huber. „Häufig durchlaufen Kinder und Jugendliche Therapien, die ihnen mehr Bewegungsfreiheit ermöglichen, sie ergreifen einen Beruf und leben ihre Hobbies aus, aber die Auswahl an Wohnmöglichkeiten ist beschränkt.“ Deswegen sei es auch ihr persönlich wichtig gewesen, einen Weg zu finden, der weder Elternhaus noch Heim bedeutet. „Mit der Einrichtung der Wohngemeinschaft ist für mich der Kreis FortSchritt erst richtig rund geworden“, sagt Susanne Huber. Marcos Auszug war ein großer Schritt für die ganze Familie: „Mir fiel Marcos Auszug vermutlich schwerer als ihm selbst“, verrät die engagierte Mutter. Ihr Sohn habe sich zunächst hauptsächlich Sorgen gemacht, ob sie weiterhin seine Wäsche waschen würde. – Ein Anliegen, dass sich schnell erledigt hatte. „Wir sorgen selbst für unsere Wäsche, den Abwasch oder den Müll“, betont Marco. Es gebe auch keinen Streit darüber, wer welche Aufgaben zu erledigen hat. „Das liegt bestimmt auch daran, dass wir uns schon so lange kennen und jeder die Stärken und Schwächen des anderen kennt“, weist Alisa auf gegenseitige Rücksichtnahme und Hilfestellung hin.

Dass Marco und Alisa und ihre Mitbewohner in ihrem neuen Zuhause selbstbestimmt leben können, ist auch der Ausstattung zu verdanken, an der sie selbst im Projektteam mitgearbeitet haben. „Die Türen sind breit genug für unsere Rollstühle, Arbeitsplatten und Herd sind Höhenverstellbar und Jalousien können per App übers Handy gesteuert werden“, zählt Marco nur einige Punkte auf, die das Leben in der WG erleichtern. „Wir können hier zeigen, dass ein selbstbestimmtes Leben möglich ist“, weisen Marco und Alisa auf ihre Vorbildsituation hin: „Wir wollen auch anderen Mut machen, so einen Schritt zu wagen.“ Wenn sie nach der Pandemie wieder mehr Besucher empfangen können, wollen sie die Einweihungsparty nachholen, vielleicht mit einem Fest im Garten des zweigeschossigen Hauses, in dem auch noch einiges zu tun ist: Hier gibt es schon Obstbäume, ein Hochbeet für Gemüse ist in Planung. „Dann fehlt eigentlich nur noch ein Pool“, sagt Marco lachend. Allerdings seien sie auch zufrieden mit Freibädern und Badeseen in der Umgebung ergänzt Alisa, die sich über eine weitere Neuerung in der Umgebung freut: Neben zahlreichen Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe ihres neuen Zuhauses gibt es dort seit kurzem auch eine Eisdiele, sich bei den WG-Bewohnern großer Beliebtheit erfreut.

Um das Modellprojekt, das von der Dietmar Hopp Stiftung gefördert wird, komplett zu machen, fehlen nun noch die letzten Mitbewohner: Der Bewerbungsprozess für die letzten beiden Personen ohne Handicap musste Corona bedingt unterbrochen werden. „Es war zu riskant, zu viele Menschen zu treffen und ein Probewohnen von Bewerbern wäre auch nicht möglich gewesen“, erklärt Susanne Huber. „Das wird nochmal spannend, wenn neue Leute einziehen“, freut sich Alisa, die mit dem Zusammenleben bislang mehr als zufrieden ist.

Stand: Juli 2021