Amputation als Chance

„Ich werde oft gefragt, was ich wählen würde: Entweder beide Beine und mein altes Leben, oder mein Leben wie es jetzt ist. Für mich ist das gar keine Frage, ich würde immer mein jetziges Leben wählen.“ Dabei fehlte es Christian Heintz vor seiner Amputation an nichts: Maler von Beruf, Fußballer aus Leidenschaft. "Ich war auch damals glücklich. Aber heute ist mein Hobby auch mein Beruf. Und ich arbeite jeden Tag daran, anderen Menschen Freude zu bringen."

Ein Autounfall rückte 2010 sowohl seinen Beruf wie sein Hobby in weite Ferne. Christian kam von der Straße ab und raste gegen einen Baum. Sechs Tage lag er im Koma. Als er erwachte, war sein gewohntes Leben vorbei. Eine Quetschung hatte zum Kompartmentsyndrom in seinem rechten Bein geführt, die Nerven unterhalb seines Knies wurden nicht mehr mit Blut versorgt und starben ab. Nachdem das Bein des damals 26jährigen amputiert wurde, bedeutete ein Flyer über Amputierten-Fußball quasi seine Eintrittskarte in ein neues Leben. „Ich dachte, der Fußball wäre für mich gestorben. Aber als ich von dieser Sportart erfuhr, hatte ich wieder ein neues Ziel.“

Dazu brauchte er jedoch viel Geduld. Zwei Jahre dauerte es, bis Christian wieder mit dem Sport beginnen konnte. Dann trat er endlich wieder gegen einen Ball - ohne Prothese, dafür mit zwei Krücken in der Hand. „Das war noch die erste Generation der deutschen Krückenfußballer“, erinnert sich Christian. Doch die Möglichkeit, zu trainieren ergab sich nur selten. Deshalb spielte er auch Sitzvolleyball. 2016 schaffte er sogar den Sprung zu den Paralympics in Rio de Janeiro. „Sportlich war ich zwar nicht gut genug, aber ich habe alle Aufgaben übernommen, die angefallen sind. Ich wurde mitgenommen, um dem Team zu helfen. Das war eine einmalige Erfahrung.“

Genauso brachte er sich auch für den Amputierten-Fußball ein und suchte nach weiteren Mitstreitern. Die Bemühungen wurden 2015 belohnt. Der von der Dietmar Hopp Stiftung geförderte Verein Anpfiff ins Leben, der 2001 von Dietmar Hopp und Anton Nagl ins Leben gerufen wurde, hatte sich der sportlichen Förderung von Menschen mit Amputation verschrieben und eine Mannschaft gegründet. „Anpfiff war ein echter Glücksfall für uns. Wir haben mit unserer Leidenschaft offene Türen eingerannt und haben nicht nur die finanzielle, sondern vor allem die organisatorische Unterstützung bekommen, die wir brauchten,“ erklärt Christian.  Er erlebte hautnah, dass der Sport den Menschen mit Amputation etwas zurückgab, was sie schon verloren geglaubt hatten.

Es dauerte daher nicht lange, bis er darüber nachdachte, wie er sein Hobby zum Beruf machen könnte. „Ich wollte möglichst vielen Menschen diesen Sport näherbringen. Und ich wollte zum Anpfiff-Team gehören“, sagt Christian. Dieses Ziel erreichte er 2018, als er die Unterstützung der Aktion Mensch Stiftung gewann. Mit dem Modellprojekt „Amputierten-Fußball im Verein“ möchte er weitere Fußballer finden, Vereine aufbauen und einen eigenen Ligabetrieb etablieren. Ebenso möchte er anormalen Fußballvereinen zeigen, dass es möglich ist, Amputierten-Fußballer in ihr Training zu integrieren. So müssen Christian und seine Mitspieler nicht auf die Trainingswochenenden mit ihrer Mannschaft warten, sondern können sich auch dazwischen fit halten und verbessern: „Viele glauben nicht, dass das funktionieren kann. Aber eigentlich ist es ganz einfach.“

Heute spielt Christian wieder Fußball und hat seine neue Leidenschaft zu seinem Beruf gemacht. Vor allem aber erhält er jeden Tag die Chance, andere zu unterstützen, die sein Schicksal teilen. Er hilft Menschen nach einer Amputation oder mit einer angeborenen Gliedmaßenfehlbildung, den Fußball für sich zu entdecken. „Sport hat eine unglaubliche Kraft. Sport macht glücklich. Und gerade für Menschen, die ein traumatisches Erlebnis hatten oder sich oft ausgeschlossen fühlen, ist Sport das beste Heilmittel. Ich durfte schon oft miterleben, wie junge Menschen das erste Mal nach einer Amputation wieder als Team Fußball spielen. Sie verändern sich vor meinen Augen. Für viele kehrt zum ersten Mal wieder Normalität in ihr Leben zurück. Endlich geht es nicht mehr um ihre Amputation, sondern um ihre sportliche Leistung, um ihren Beitrag für das Team. Diese Erfahrung sollte jeder Mensch mit einem Handicap machen können.“

Der Bereich Amputiertensport bei Anpfiff ins Leben bietet allerdings weit mehr als Fußball: Im Rahmen der Bewegungsförderung für Amputierte hat Anpfiff ins Leben beispielsweise eine Sitzvolleyballmannschaft für Spieler mit und ohne Behinderung gegründet. 2016 wurde mit Anpfiff Hoffenheim e.V. ein Verein für Behindertensport gegründet, der die Teilnahme am Ligabetrieb ermöglicht. Damit wurde eine Lücke im Bewegungsangebot für Menschen mit Amputationen geschlossen. „Es gibt leider nur wenige Sportangebote in diesem Bereich, dabei eröffnet der Sport bei Betroffenen Perspektiven für das gesamte Leben“, erklärt Salome Hermann, Koordinatorin Sitzvolleyball und selbst Sitzvolleyballerin von Anpfiff Hoffenheim und des Nationalteams. Außerdem zeigen die sportlichen Angebote, dass Nordic Walking und Laufen mit Carbonfedern nach einer Amputation ebenso möglich sind wie etwa Fitnesstraining, Skifahren, Klettern oder Tanzen. Das Angebot orientiert sich an den individuellen Bedürfnissen der Teilnehmenden, und über Kennenlern- und Schnupperaktionen kann jeder einfachen Zugang zu einer passenden Gruppe finden und unverbindlich eine neue Sportart ausprobieren.

Bei Anpfiff ins Leben geht es um mehr als Sport: Liegt in der Jugendsportförderung ein Schwerpunkt darauf, Jugendlichen Orientierung zu geben, ihnen Perspektiven aufzuzeigen und sie fit fürs Leben zu machen, möchte die Amputiertenförderung Menschen nach einer unfall- oder krankheitsbedingten Amputation wieder in ein aktives Leben zurückführen. Der Verein berät Betroffene und ihre Angehörigen vor und nach einer Amputation, vermittelt und berät in Bezug auf Reha-Maßnahmen, die Alltagsmobilität zu Hause oder die orthopädische und physiotherapeutische Versorgung. Das sportliche Angebot von Anpfiff ins Leben soll schließlich dabei helfen, fit zu werden und dadurch auch den Alltag leichter zu bewältigen. „Die Dietmar Hopp Stiftung unterstützt Anpfiff ins Leben gern, weil der Verein den ganzen Menschen im Blick hat. Durch den Sport auch andere Lebensbereiche positiv zu beeinflussen, ist ein wichtiges Anliegen, das hier vorbildhaft umgesetzt wird. Die Amputiertenförderung leistet außerdem einen wichtigen Beitrag, damit Menschen mit Handicap mitten im Leben stehen, ebenfalls ein Thema, das der Stiftung und Dietmar Hopp persönlich am Herzen liegt“, erklärt Henrik Westerberg, Referent Sport bei der Dietmar Hopp Stiftung.

Stand: Juli 2021