Erzählte Lebensgeschichte: Das Familienhörbuch

Es ist einer der letzten kalten Wintertage im März, dunkel und regnerisch. Davon merkt man in der gemütlichen Atmosphäre des Arbeitszimmers von Ute Roth nichts. An einem Schreibtisch mit einer Tasse Tee ausgestattet sitzt Nadja S. vor einem Mikrophon. Die 46jährige hat metastasierenden Brustkrebs und nimmt für ihre Tochter ein Familienhörbuch auf. Noch ein paar Tontests, dann geht es los. „Wir waren gestern bei Ihrer Ausbildungszeit stehen geblieben“, führt Audiobiografin Ute Roth in den zweiten Aufnahmetag ein – und muss dann gar nicht mehr viel sagen, denn Nadja S. kommt ganz von selbst ins Erzählen. Sie berichtet von Rahmenbedingungen ihrer Ausbildungszeit, aber auch von ihren Gefühlen und Gedanken zu der Zeit. Dass sie das teilweise im Dialekt tut, macht die Aufnahme noch persönlicher. „Ich kann mit dem Hörbuch mein Leben mit persönlichen Gedanken und Gefühlen hinterlassen, das sagt mehr als ein geschriebenes Wort oder Fotos“, ist sich Nadja S. sicher.

Und genau darum geht es beim Familienhörbuch: Lebenserinnerungen und Lebenserfahrungen im Originalton Kindern zu hinterlassen, die schon früh einen Elternteil verlieren. Die Hörfunkjournalistin und Audiobiografin Judith Grümmer hat 2019 die als gemeinnützig anerkannte Familienhörbuch gGmbH gegründet. Seitdem wurden in ganz Deutschland über 300 Hörbücher aufgenommen. In ihnen kommen unheilbar lebensverkürzend kranke Mütter und Väter zu Wort, die ihre Kinder auf dem Weg ins Erwachsenenleben nicht mehr persönlich begleiten können.

Die Tochter von Nadja S. ist dreizehn. Nadja S. möchte sie noch so lange wie möglich auf ihrem Lebensweg begleiten, nutzt aber die Chance, ihr eine authentische Erinnerung zu hinterlassen: ihre Lebensgeschichte in eigenen Worten, mit der eigenen Stimme. 2015 war Nadja S. an Brustkrebs erkrankt, wurde zunächst erfolgreich behandelt. Aber ab dem Spätjahr 2020 häuften sich Beschwerden, sie litt unter Atemnot. Es folgte eine lebensrettende Operation eines Pleuraergusses, mit Metastasen in Lunge, Leber und Lymphknoten gab ihr der Arzt im Frühjahr 2021 noch ein halbes Jahr zu leben. Mittlerweile sind zwei Jahre vergangen, in denen die Bad Schönbornerin im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg behandelt wird und auch an einer Studie teilnehmen konnte. Dort hat sie auch vom Familienhörbuch erfahren.

„Ich hatte vor längerer Zeit schon mal etwas darüber in den sozialen Medien gesehen, damals konnte ich mir noch nicht vorstellen, wirklich alle Höhen und Tiefen meines Lebens nochmal zu reflektieren und davon zu erzählen“, sagt sie lachend. Auch wenn die Vorbereitungen auf die Aufnahme und der Aufnahmeprozess selbst sehr bewegend seien, sei sie froh, sich dazu entschlossen zu haben. „Meine Lebensgeschichte, die ich im Hörbuch erzähle, zeigt meiner Tochter irgendwann mal, warum ich als Mensch so geworden bin, wie ich bin. Das Erzählen ist sehr aufregend und ich bin zum Teil sehr aufgewühlt, weil ich weiß, welche Bedeutung das Hörbuch hat“, betont Nadja S.: „Es ist, als würde ich im Dialog mit meiner Tochter sein, ich spreche sie bei der Aufnahme direkt an und werde eines Tages, wenn die Erinnerungen zum Beispiel an meine Stimme etwas verblassen, hoffentlich wieder lebendiger für sie.“

Dafür, dass die Sicht des Kindes während der Aufnahme nicht aus den Augen verloren wird, sorgt Ute Roth. Sie ist eine von bundesweit mehr als 20 Autobiografinnen und -biografen im Team um Judith Grümmer. Während das Erzählen für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein sehr persönlicher Prozess ist, muss sie während der Aufnahme aus der Distanz denken, zum Beispiel darauf achten, dass die Formulierungen passen. „Ich bekomme das zwar in dem Moment erzählt, aber die Geschichten sind nicht für mich, sondern für die Kinder“, betont sie. Jedes Buch sei berührend, in ihrer Ausbildung zur Audiobiografin habe sie aber das Handwerkszeug mitbekommen, um das Gespräch zu steuern. Auch ihre langjährige Tätigkeit als ehrenamtliche Hospizbegleiterin komme ihr zugute, wenn es darum geht, einen gewissen Abstand zu wahren, auch wenn man sich „plötzlich in einem ganz privaten Bereich eines Menschen wiederfindet, der eine schwierige Phase durchlebt“.

Rund zehn Hörbücher hat Ute Roth in den letzten zwei Jahren begleitet. Für Nadja S. ist es das erste und einzige, aber die Lehrerin hat bereits früher Erfahrungen mit Botschaften an ihre Tochter gesammelt: Sie ist in den sozialen Medien aktiv, berichtet dort über ihre Erkrankung und hat ihre Blogeinträge schon in einem Buch für die Tochter zusammengefasst. Mit ihren Beiträgen auf Facebook, Instagram und Co. will sie Mut machen und zeigen, dass die Diagnose Krebs kein Todesurteil sein muss, dass man mit der Krankheit leben lernen kann. – Und sie greift das Leben mit beiden Händen, ist 2022 nach Santiago de Compostela gepilgert, war Anfang 2023 mit der Tochter in Paris und plant ihre nächste Pilgerreise im Sommer auf dem portugiesischen Pilgerweg. „Ich will Erinnerungen generieren und nichts vor mir herschieben“, unterstreicht die lebhafte Frau. Und in der Zwischenzeit berichtet sie für das Familienhörbuch von ihren bisherigen Erinnerungen, aus Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben, und hat eine Botschaft für ihre Tochter: „Ich möchte ihr mitgeben, dass sie sie selbst sein und ihren Weg gehen soll, dass alles möglich ist und dass das, was sie mit Liebe tut, nicht falsch sein kann.“ So hofft sie, dass das Familienhörbuch nicht nur eine schöne Erinnerung für ihre Tochter wird, sondern dass sie auch von den Lebenserfahrungen der Mutter profitieren kann.

Katrin S. kann bereits beurteilen, dass ihre Erwartungen an das Familienhörbuch “mehr als erfüllt“ wurden. Sie hat die Aufnahmen schon im November 2021 gemacht und hatte in der Zwischenzeit Gelegenheit, sich das Ergebnis anzuhören.

2019 erhielt die Plankstadterin die Diagnose Brustkrebs. Nach anfänglichen gesundheitlichen Fortschritten kam 2021 der Rückfall mit Metastasen im Gehirn. „Bei so einer Diagnose macht man sich Gedanken, wie man sich verabschiedet und was aus den Kindern wird“, erklärt die 36jährige. Über Instagram erfuhr sie von der Möglichkeit, ein Familienhörbuch aufzunehmen.

Im Vorfeld der dreitägigen Aufnahme hat sich Katrin S. anhand eines Leitfadens Notizen gemacht und überlegt, was sie erzählen sollte. Und dann sprudelte es regelrecht aus ihr heraus: „Ich habe bei den Aufnahmen geredet, als wenn ich mit meinen Kindern reden würde. Ich habe ihnen meine Lebensgeschichte erzählt“, sagt sie. Dabei habe sie auch viel Spaß gehabt: „Ich habe bisher so viel Schönes erlebt und die Aufnahme hat viele schöne Erinnerungen geweckt.“ Auch beim Anhören habe sie oft gelacht, zum Beispiel bei Geschichten aus ihrer Jugend. Aber sie habe ihren Kindern auch etwas mitgeben wollen. So habe sie etwa Geschichten vorgelesen, die eine Botschaft an ihre vier und sechs Jahre alten Kinder vermitteln sollen, „dass sie gut sind, so wie sie sind.“ Die Autobiografin habe sie dabei unterstützt, verständliche und kindgerechte Formulierungen auch bei schwierigen Themen zu finden. Auch haben die Mitarbeitenden der Familienhörbuch gGmbH für eine Struktur gesorgt, so dass zusammen mit der von Katrin S. ausgewählten Musik ein rundherum rundes Hörbuch entstanden ist.

Momentan geht es der 36jährigen gut und sie hat einen erfüllenden Alltag, in dem sie so weit wie möglich alles so macht, wie gesunde Frauen und Mütter auch. Unter anderem versorgt sie nicht nur ihre Familie, sondern arbeitet auch zwei Tage in der Woche. „Als positiver Mensch glaube ich, dass ich noch lange lebe. Aber ich bin auch froh, dass das Hörbuch fertig ist. Es ist eine Entlastung zu wissen, dass ich meiner Familie ein Stück von mir und etwas Schönes hinterlasse. Das hilft mir auch, im Jetzt gut weiterzuleben“, resümiert Katrin S.

Hinter den schönen Erinnerungen für die Kinder steckt bei der Familienhörbuch gGmbH ein Team aus Audiobiografen, professionellen Musikern und Komponisten, Tontechnikern, Psychoonkologen, Psychologen und vielen weiteren Engagierten. Denn nach der durchschnittlich drei Tage dauernden Aufnahme, die unter vier Augen stattfindet, wird das Hörbuch aufwendig bearbeitet. Störgeräusche werden ausgeblendet, die Kapitel eingeteilt, das Ganze mit Musik hinterlegt. So stecken in einem Familienhörbuch rund 100 Arbeitsstunden. Die für die Palliativpatientinnen und -patienten kostenfreien Familienhörbücher kosten jeweils etwa 5.000 bis 6.000 Euro und werden komplett durch Spenden finanziert. Eine Förderung der Dietmar Hopp Stiftung in Höhe von 252.000 Euro ermöglicht Audiobiografien für 50 Patientinnen und Patienten, die am NCT oder dem Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD) behandelt werden. Dort wird das Projekt als therapiebegleitendes Angebot gleichzeitig im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie begleitet, um die Wirksamkeit und Bedeutung der Hörbücher für die Familien und Hinterbliebenen zu untersuchen.

Informationen zum Familienhörbuch unter www.familienhoerbuch.de

Stand: März 2023